Die Schweizer Wettbewerbskommission veröffentlicht ihren ersten Entscheid, in dem sie einen Missbrauch relativer Marktmacht feststellt
Die Schweizer Wettbewerbskommission (WEKO) hat ihren Entscheid zum Madrigall-Fall vom 23. September 2024 veröffentlicht. Es handelt sich um den ersten Fall, in dem ein Missbrauch relativer Marktmacht festgehalten wurde. Der Entscheid, gegen den Beschwerde eingelegt wurde, wirft wichtige Fragen hinsichtlich des Anwendungsbereichs der neuen Regeln auf.
Publiziert: 28 März 2025
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Publiziert: 28 März 2025 | ||
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Competition and Regulated Markets |
Sachverhalt
Der Fall, welcher dem WEKO-Entscheid zugrunde liegt, betrifft einen angeblichen Missbrauch relativer Marktmacht von Madrigall gegenüber Payot.
Madrigall ist eine französische Verlagsgruppe in Familienbesitz, die Verlagshäuser wie Gallimard, Flammarion, Casterman und Marken wie La Pléjade und Folio umfasst. Payot ist eine Schweizer Buchhandelskette, die als Marktführerin über ein Dutzend Buchläden in der französischsprachigen Schweiz betreibt. Payot erwirbt bislang Bücher von Madrigall über Madrigalls offizielles Vertriebssystem in der Schweiz.
Im September 2022 zeigte Payot Madrigall wegen angeblichen Missbrauchs relativer Marktmacht bei der WEKO an. Im Wesentlichen machte Payot geltend, dass Payot direkt bei Madrigall in Frankreich einkaufen wolle, aber die vorgeschlagenen Geschäftsbedingungen einer solchen Lieferung unangemessen seien.
Nach einem Untersuchungsverfahren von rund zwei Jahren kam die WEKO im vorliegenden Entscheid zum Schluss, Madrigall verfüge in Bezug auf französischsprachige Bücher, die durch Madrigall herausgegeben und/oder vertrieben werden, über relative Marktmacht gegenüber Payot. Diese habe Madrigall missbraucht, indem Madrigall von Payot höhere Preise verlangte als von den französischen Buchhändlern.
Gegen diesen Entscheid legte Madrigall beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde ein.
Relative Marktmacht
Das Konzept des Missbrauchs relativer Marktmacht wurde im Jahr 2022 im Schweizer Kartellrecht verankert.
Als relativ marktmächtiges Unternehmen gilt ein Unternehmen, von dem andere Unternehmen beim Angebot oder bei der Nachfrage einer Ware oder Leistung in einer Weise abhängig sind, dass keine ausreichenden und zumutbaren Möglichkeiten bestehen, auf andere Unternehmen auszuweichen. Die Analyse bezieht sich auf das bilaterale Verhältnis zwischen zwei Unternehmen, d.h. in casu zwischen Madrigall und Payot.
Die WEKO wandte eine dreistufige Analyse an, um das Vorliegen relativer Marktmacht von Madrigall gegenüber Payot zu untersuchen:
(i) Abhängigkeitsverhältnis. Die Praxis der WEKO zur Beurteilung, ob ein Unternehmen über ausreichende und zumutbare Ausweichmöglichkeiten verfügt, besteht darin, (a) die Ausweichmöglichkeiten zu identifizieren, (b) die Folgen solcher Ausweichmöglichen zu analysieren und (c) die Zumutbarkeit der Folgen zu prüfen.
- Bei der Ermittlung der Ausweichmöglichkeiten zu bestimmten Produkten oder Dienstleistungen sind andere Anbieter sowie alternative Produkte und Dienstleistungen zu berücksichtigen, zudem ist auch der Verzicht auf die Leistung eine zu berücksichtigende Alternative.
- Falls Alternativen bestehen, untersucht die WEKO die Folgen einer Alternative für das Unternehmen. Die Analyse der WEKO bezieht sich beispielsweise auf den Umsatz, den Gewinn und die Kosten des Unternehmens bei Verwendung der Alternativen im Vergleich zur aktuellen Situation.
- Schliesslich ist zu untersuchen, ob die Folgen einer Ausweichmöglichkeit für das betroffene Unternehmen zumutbar / akzeptabel sind. In diesem Zusammenhang gilt ein Unternehmen auch dann nicht als abhängig, wenn die Ausweichmöglichkeiten Nachteile verursachen, solange diese Nachteile unbedeutend sind.
In ihrem Entscheid ging die WEKO davon aus, dass Payot neben dem Direktbezug von Madrigall keine zumutbare oder objektiv praktikable Bezugsquelle habe.
(ii) Fehlende Gegenmacht. Die WEKO hielt fest, dass Payot gegenüber Madrigall über keine Gegenmacht verfüge, da die Beendigung der Geschäftsbeziehung zwischen den Unternehmen den Umsatz der Madrigallgruppe nur geringfügig verringern würde, während die Konsequenzen für Payot deutlich gravierender wären.
(iii) Kein grobes Selbstverschulden vonseiten des mutmasslich abhängigen Unternehmens. Schliesslich ging die WEKO davon aus, dass Payots Abhängigkeit nicht aufgrund von Payots Geschäftsentscheidungen entstanden sei, sondern dem System inhärent sei.
Gestützt auf die obigen Ausführungen gelangte die WEKO zum Schluss, dass Madrigall in Bezug auf Madrigall-Bücher gegenüber Payot über relative Marktmacht verfüge.
Missbräuchliches Verhalten
Falls ein Unternehmen gegenüber einem anderen Unternehmen über relative Marktmacht verfügt, so kann das Verhalten des relativ marktmächtigen Unternehmens missbräuchlich und folglich unzulässig sein, wenn es andere Unternehmen in der Aufnahme oder Ausübung des Wettbewerbs behindert oder die Marktgegenseite benachteiligt.
Das Schweizer Wettbewerbsrecht verbietet insbesondere die Einschränkung der Möglichkeit der Nachfrager, Waren oder Leistungen, die in der Schweiz und im Ausland angeboten werden, im Ausland zu den dortigen Marktpreisen und den dortigen branchenüblichen Bedingungen zu beziehen. Diese neue Bestimmung wurde zusammen mit den Bestimmungen zum Missbrauch relativer Marktmacht im Jahr 2022 eingeführt.
Die WEKO identifizierte vier kumulative Voraussetzungen für die Anwendung dieses Verbots:
- Die Waren oder Leistungen werden in der Schweiz sowie im Ausland angeboten. Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall gegeben.
- Einschränkung der Möglichkeit, Waren und Leistungen zu Marktpreisen und branchenüblichen Bedingungen zu beziehen. Die WEKO vertrat im Madrigall-Entscheid die Ansicht, dass die Marktpreise in Frankreich angesichts der standardisierten (gesetzlich geregelten) Berechnung transparent seien. Ausserdem vertrat die WEKO die Auffassung, dass die Preise, welche Madrigall Payot anbot, Payot darin einschränkten, Madrigall-Bücher zu den Marktpreisen und branchenüblichen Bedingungen in Frankreich zu beziehen.
- Missbräuchliche Natur der Einschränkung. Madrigall führte eine Reihe von Rechtfertigungen für die Preisunterschiede auf (z.B. Arbeitskosten von Madrigall, um die rechtliche Verpflichtung zu erfüllen, Bücher in der Schweiz zu bewerben und das erhöhte Inkassorisiko einer grenzüberschreitendenden Geschäftsbeziehung). Die WEKO akzeptierte diese Argumentation nur teilweise und anerkannte nur eine geringe zusätzliche Kostenlast im Vergleich zu den in Frankreich geltenden Preisen.
- Fehlen einer objektiven Rechtfertigung. Abgesehen von gewissen zusätzlichen Kosten, die im Rahmen der Analyse anerkannt wurden, akzeptierte die WEKO in ihrem Entscheid keine Rechtfertigung der verbleibenden Preisunterschiede.
Gestützt auf die obigen Ausführungen hielt die WEKO einen Teil des Preisunterschieds zwischen Madrigalls Angebot gegenüber Payot und dem in Frankreich geltenden Preis, der sich aufgrund des französischen staatlichen Preisrahmens ergibt, für nicht gerechtfertigt und deshalb missbräuchlich.
Die WEKO kam daher zum Schluss, dass Madrigall ihre relative Marktmacht gegenüber Payot missbraucht habe. Eine Sanktion wurde nicht auferlegt, da die Bestimmungen zum Missbrauch relativer Marktmacht die Verhängung eines wettbewerbsrechtlichen Bussgelds nicht vorsehen.
Offene Fragen und Anmerkungen
Die WEKO verneinte das Vorliegen eines Missbrauchs relativer Marktmacht in ihrem Fresenius Kabi-Entscheid vom 24. Juni 2024. Der Madrigall-Fall ist daher der erste Entscheid, in dem die WEKO von einem Missbrauch relativer Marktmacht ausgeht. Allerdings wirft der Madrigall-Fall bedeutende Fragen hinsichtlich des Anwendungsbereichs des neuen Gesetzes sowie seiner Vereinbarkeit mit dem Fresenius Kabi-Entscheid auf. Ganz besonders stellen sich nachfolgende Fragen, wobei die Aufzählung nicht abschliessend ist:
- Der Madrigall-Fall betrifft den französischen Büchermarkt, der sich durch regulierte Marktpreise auszeichnet. Es erscheint daher zweifelhaft, ob es zulässig ist, Teile des französischen Rechtsrahmens (d.h. Bestimmungen zu Grosshandelspreisen) in der Schweiz zur Ermittlung der sogenannten "Marktpreise" anzuwenden, während andere relevante Aspekte des französischen Rechtsrahmens nicht berücksichtigt werden.
- Ebenfalls fraglich ist, ob die WEKO in laufende Verhandlungen zwischen privaten Unternehmen, z.B. über Preise, eingreifen sollte (z.B. indem sie eine Untersuchung einleitet) oder nicht bis zum Abschluss bzw. dem Scheitern der Verhandlungen warten müsste.
- Hinsichtlich der Frage nach der relativen Marktmacht definierte die WEKO die relevanten Produktmärkte nicht gestützt auf die ständige Rechtsprechung. Dies wirft die Frage auf, ob die WEKO in Fällen relativer Marktmacht nicht verpflichtet sein sollte, die relevanten Märkte zu definieren, um zu vermeiden, dass das Konzept in Fällen angewandt wird, in denen effektiv keine solche relative Marktmacht existiert. Insbesondere grenzte die WEKO im vorliegenden Fall keine Märkte ab und nahm entsprechend – entgegen der Praxis anderer Wettbewerbsbehörden – keine Segmentierung des Buchgrosshandelsmarktes vor, was sich auf die Beurteilung der Marktstellung von Madrigall auswirkte.
- Schlussendlich stellt sich mit diesem Entscheid die Frage, wo die Eingriffsschwellen in Fällen relativer Marktmacht liegen, sowohl in Bezug auf das Konzept der relativen Marktmacht als auch in Bezug auf das Konzept des Missbrauchs. Diese Schwellen wurden im Madrigall-Fall sehr tief angesetzt, was Fragen zur Rechtsicherheit aufwirft.
Der Entscheid ist noch nicht rechtskräftig und befindet sich aktuell vor Bundesverwaltungsgericht.
Madrigall wird in diesen Verfahren durch Lenz & Staehelin vertreten.
Reden wir
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